Sonntag, 14. August 2016

Eine neue Liebe

Der Nachbar von gegenüber schaut mich komisch an. „Was glotzt die Alte denn schon wieder in unsere Küche rein?“, scheint mir sein abwertender Blick zu sagen. Hilflos versuche ich einen möglichst unvoyeuristischen Gesichtsausdruck aufzusetzen (wie ging das nochmal?) und gestikuliere wild auf seinen Balkon. Lässt mich wahrscheinlich weder vertrauenerweckender erscheinen, noch entschärft es die Situation, denke ich. Also besser drauf gefasst machen, dass der Burberry-Schal-Träger gleich in britischer Blitzgeschwindigkeit aus seiner Tür springt und mich über die unschuldigen Balkonblumenkästen hinweg zur Rede stellt…

Dabei interessiert er mich ja gar nicht! Weder er, noch seine laufenden Spülmaschine, deren rotes Display mich ständig ungewollt über die noch verbleibende Restspülzeit informiert. Nicht seine dunkelblonde, 3/4-Hosen-tragende Freundin mit Pferdeschwanz. Und schon gar nicht seine kleinkarierten Unterhosen, die alle paar Waschtage mal auf der Leine vom Winde verweht werden. Was mich interessiert, ist das sympathische Eichhörnchen auf seinem Balkon!

Da sitzt man also in dieser Stadt. Am Morgen und am Abend auf seinem 2x4m großen Balkon, erfreut sich an den 3,5 Chili, die aus den Blumenkästen kläglich nach Existenz sprießen und sucht nach Leben. Leben ist, wenn der Nachbar lautstark SWR3 krächzen lässt (endlich mal wieder in regelmäßigen Abständen Verkehrsservice), Benjamin (5)  im Hinterhof fleißig am Handwerken ist („Was ist das?“ – „Ich weiß es nicht, aber es ist auf jeden Fall ein gutes Fundament!!!“) oder die einsame Tram auf der großen Kaiserallee des Nachts vergnüglich quietscht.

Was bringt da Action in das Alltagsdrama? Ein kleines, mitteleuropäisches Eichhörnchen. Mein neuer Verbündeter in verschlafener Morgenstund‘ und einsamer Abendsonne. Erst raschelt es, dann wackeln heimlich die kleinen Blätter der großen Buche. Und da! Vorhang auf: Kastanienbraune, große wachsame Augen, schneller als Speedy Gonzalez nach 81 Espresso, springt und klettert es am Rauputz des Gründerzeit-Altbau empor. Die Hauswand denkt: „Junge, Eichhorn, du müsstest dich vor keinem südländischen Gecko verstecken!“.

Da ist das Eichhorn also auf dem Balkon des BurberryNachbarn und springt geschäftig von Blumenkasten zu Blumenkasten. Nüsse vergraben! Eichhörnchen vergraben sehr viele Nüsse. Für die Vorratshaltung. Das darf sich der Leser nun nicht vorstellen, wie wenn man jetzt da als urbaner twenty-something zu Aldi und Rewe geht (– ach, was sag ich, Al Natura und Reformhaus!!) und dann zu Hause angekommen die ganzen Bioeinkäufe selbstzufrieden in der Vorratsschublade vergräbt. Nein. Das Eichhörnchen verscharrt ganz (ganz) viele (Bio-)Nüsse. Für gute und für schlechte Zeiten. Und weil es ganz offen und ehrlich einfach vergisst, wo es das braune Gold verbuddelt.

Man kann sich nur vorstellen, was das für ein Stress ist! Bei mir ist das ja ganz anders. Wenn ich morgens aufstehe und so um sieben im Gleichklang mit den ersten Sonnenstrahlen den Kaffee aufsetze (Cafetera: Regalbrett, Milch: Kühlschranktür, Glas: Gläserschrank), hat das Eichhörnchen im Optimalfall schon seine erste Nuss gesucht, gefunden und geknackt – knartzknartz. Oder es sucht noch. Oder es buddelt schon. Nur geknackt wird um die Zeit nicht mehr.

Ich gehe zur Arbeit, frage mich, warum eigentlich alle Menschen auf dieser Welt so bescheuert sind, tackere (Tacker: Schreibtisch rechts), markiere (Leuchtmarker: obere Schublade), projiziere (Beamer: von nebenan holen) und das Eichhörnchen suchtundbuddeltundvergräbttundbuddeltundsuchtknartz. Abends komme ich todmüde zurück,  es gibt noch einen Vino auf dem Balkon (Rotwein: Weinregal) und da ist es. Immer noch taufrisch und mit wachen Augen, als wäre es das erste Mal im Leben auf der Suche nach dem perfekten Versteckplatz für die perfekte Nuss. Buddeln, ablegen, stampfenstampfen. Vergessen. Oh! Heute schon eine Nuss vergraben? Solch eine entzückende Ehrlichkeit.

Ich gebe zu, ich habe mich verliebt. Ohne das Eichhörnchen wäre das Leben hier echt trist. Aber so kann ich es noch eine Weile aushalten. Die Spülmaschine vom Nachbarn braucht noch 27 Minuten, bis Villeroy und Boch wieder lupenrein ist. Bis morgen, Eichhorn. Schlaf gut. 

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