Der Nachbar von gegenüber schaut mich komisch an. „Was
glotzt die Alte denn schon wieder in unsere Küche rein?“, scheint mir sein
abwertender Blick zu sagen. Hilflos versuche ich einen möglichst
unvoyeuristischen Gesichtsausdruck aufzusetzen (wie ging das nochmal?) und
gestikuliere wild auf seinen Balkon. Lässt mich wahrscheinlich weder vertrauenerweckender
erscheinen, noch entschärft es die Situation, denke ich. Also besser drauf
gefasst machen, dass der Burberry-Schal-Träger gleich in britischer Blitzgeschwindigkeit
aus seiner Tür springt und mich über die unschuldigen Balkonblumenkästen hinweg
zur Rede stellt…
Dabei interessiert er mich ja gar nicht! Weder er, noch
seine laufenden Spülmaschine, deren rotes Display mich ständig ungewollt über
die noch verbleibende Restspülzeit informiert. Nicht seine dunkelblonde,
3/4-Hosen-tragende Freundin mit Pferdeschwanz. Und schon gar nicht seine
kleinkarierten Unterhosen, die alle paar Waschtage mal auf der Leine vom Winde
verweht werden. Was mich interessiert, ist das sympathische Eichhörnchen auf
seinem Balkon!
Da sitzt man also in dieser Stadt. Am Morgen und am Abend
auf seinem 2x4m großen Balkon, erfreut sich an den 3,5 Chili, die aus den Blumenkästen
kläglich nach Existenz sprießen und sucht nach Leben. Leben ist, wenn der
Nachbar lautstark SWR3 krächzen lässt (endlich mal wieder in regelmäßigen
Abständen Verkehrsservice), Benjamin (5)
im Hinterhof fleißig am Handwerken ist („Was ist das?“ – „Ich weiß es
nicht, aber es ist auf jeden Fall ein gutes Fundament!!!“) oder die einsame Tram auf
der großen Kaiserallee des Nachts vergnüglich quietscht.
Was bringt da Action in das Alltagsdrama? Ein kleines, mitteleuropäisches
Eichhörnchen. Mein neuer Verbündeter in verschlafener Morgenstund‘ und einsamer
Abendsonne. Erst raschelt es, dann wackeln heimlich die kleinen Blätter der großen
Buche. Und da! Vorhang auf: Kastanienbraune, große wachsame Augen, schneller
als Speedy Gonzalez nach 81 Espresso, springt und klettert es am Rauputz des
Gründerzeit-Altbau empor. Die Hauswand denkt: „Junge, Eichhorn, du müsstest dich vor keinem südländischen Gecko verstecken!“.
Da ist das Eichhorn also auf dem Balkon des BurberryNachbarn
und springt geschäftig von Blumenkasten zu Blumenkasten. Nüsse vergraben! Eichhörnchen
vergraben sehr viele Nüsse. Für die Vorratshaltung. Das darf sich der Leser
nun nicht vorstellen, wie wenn man jetzt da als urbaner twenty-something zu
Aldi und Rewe geht (– ach, was sag ich, Al Natura und Reformhaus!!) und dann
zu Hause angekommen die ganzen Bioeinkäufe selbstzufrieden in der
Vorratsschublade vergräbt. Nein. Das Eichhörnchen verscharrt ganz (ganz) viele (Bio-)Nüsse. Für gute und für schlechte Zeiten. Und weil es ganz offen und ehrlich
einfach vergisst, wo es das braune Gold verbuddelt.
Man kann sich nur vorstellen, was das für ein Stress ist! Bei
mir ist das ja ganz anders. Wenn ich morgens aufstehe und so um sieben im Gleichklang mit den ersten Sonnenstrahlen den Kaffee
aufsetze (Cafetera: Regalbrett, Milch: Kühlschranktür, Glas: Gläserschrank),
hat das Eichhörnchen im Optimalfall schon seine erste Nuss gesucht, gefunden
und geknackt – knartzknartz. Oder es sucht noch. Oder es buddelt schon. Nur geknackt
wird um die Zeit nicht mehr.
Ich gehe zur Arbeit, frage mich, warum eigentlich alle
Menschen auf dieser Welt so bescheuert sind, tackere (Tacker: Schreibtisch rechts),
markiere (Leuchtmarker: obere Schublade), projiziere (Beamer: von nebenan
holen) und das Eichhörnchen suchtundbuddeltundvergräbttundbuddeltundsuchtknartz.
Abends komme ich todmüde zurück, es gibt
noch einen Vino auf dem Balkon (Rotwein: Weinregal) und da ist es. Immer noch
taufrisch und mit wachen Augen, als wäre es das erste Mal im Leben auf der
Suche nach dem perfekten Versteckplatz für die perfekte Nuss. Buddeln, ablegen,
stampfenstampfen. Vergessen. Oh! Heute schon eine Nuss vergraben? Solch eine
entzückende Ehrlichkeit.
Ich gebe zu, ich habe mich verliebt. Ohne das Eichhörnchen
wäre das Leben hier echt trist. Aber so kann ich es noch eine Weile aushalten. Die
Spülmaschine vom Nachbarn braucht noch 27 Minuten, bis Villeroy und Boch wieder
lupenrein ist. Bis morgen, Eichhorn. Schlaf gut.
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