Sonntag, 6. März 2011

La vida de la pata chula*

Helau, 
es ist Karneval. Ich gehe dieses Jahr außnahmsweise mal nicht als vom grippalen Infekt befallenes Opfer, sondern quasi als Behindeter. (Damit passe ich meines Erachtens nach auch ziemlich gut zum Rest des Karnevalvolks oder zumindest zu der Feier an sich.) Ich hatte ja völlig vergessen, wie anstrengend es ist auf Krücken zu laufen! Da bringt es auch nichts, dass ich wählen durfte ob ich die Stüzen in rot oder schwarz haben wollte, seit konstant zehn Tagen leidet mein oberer Rücken, Bizeps, Brustmuskulatur, Hände unter starkem Muskelkater, während die Problemzonen der Frau (nicht, dass ich welche hätte, aber WENN ich welche hätte, REIN hypothetisch!) völlig untrainiert bleiben. Drei Stockwerke runter, drei Stockwerke hoch. Drei Stockwerke runter, drei Stockwerke hoch. Mittlerweile bin ich schon so flink, dass ich manchmal die dritte Etage erreiche, bevor sich der Bewegungsmelder von alleine ausschaltet. Bei Schnecken hat man das ja auch, da guckt man einen Moment mal nicht hin und zack - sind sie einen Meter weiter! Was ich sonst noch für hochspannende, actionbepackte Erfahrungen als pata chula* in den letzten gefühlen 2 1/2 Jahren machen durfte, erzähle ich euch heute in meinem Blog.

*La vida (Esp.), Das Leben (dt.) ;  de (Esp.), der, des (+ Gen, dt.)
pata (Esp.), Hachse, Keule, Kumpel (dt.)  ;  chula (Esp.), cool, hübsch (oder auch: kess! dt.)



Es geht schon damit los, dass ich in den Bus einsteige und bildlich betrachtet ein schwangerer, uralter Mann mit Krücken in der Hand und Baby auf dem Bauch aufsteht um mich auf den Behindetenplatz zu lassen. "Uff, sehe ich wirklich so bedürftig aus?", frage ich mich. Dann schau ich an mir herunter. Schweißgebadet (wir haben ja schon Frühling hier mit angenehmen 23 Grad), ein rabenschwarzer Gips (ehemals weiß), sieht aus, als könne ich mir die Nachsorgeuntersuchung nicht leisten. Dann: ich rieche diesen widerlichen Gerucht, den nur ein Gips verströmen kann ... aha! Nicht weil ich so bedürftig aussehe, sondern weil die anderen das Bedürfnis nach reiner Luft haben, bekomme ich überall einen Sitzplatz. Traurig, aber wahr... das Leben macht so gar nicht mal so viel Spaß. Ok, ich höre auf zu Jammern und erzähle euch lieber noch ein paar kuriose Sachen. 

Sitz ich also dann endlich auf dem Behindertenplatz im Bus, steigt ein Spanier ein mit deutscher Bundeswehruniform und fängt an zu singen. Unsere Nationalhymne. Die 1. Strophe. "Feinfein," denke ich mir, "der kann den Text fast besser als ich". Schock genug, kann ich aber noch einen draufsetzen. Das ist nämlich bereits das zweite Mal in dieser Woche, dass ich die in unseren Landen verbotene Strophe höre. Das andere Mal war ich mit Teresa ein Bierchen trinken, man kam mit Leuten ins Gespräch (das geht recht schnell als schönste Frau der Welt mit Gips) und zack, steht da ein betrunkener Mann vor uns, reißt die Arme gen Himmel und brüllt sich an uns gerichtet die Seele aus dem Leib "Deutschland... Deutschland...". Hätte ich rennen können, wäre ich gerannt. Hätte ich Kraft gehabt, hätte ich ihn mit meinen Krücken verprügelt, hätten mir nicht die Worte gefehlt hätte ich ihm höflich auf spanisch erklärt, dass das nicht gerade zum guten Ton gehört. Und was hab ich gemacht? Nichts. Stand da eher wie versteinert. Und jetzt frage ich mich die ganze Zeit ob die Leute überhaupt wissen, was es damit auf sich hat... irgendwie Erschreckend. Könen nicht "Guten Abend" auf deutsch sagen, aber die 1. Strophe der Nationtalhymne singen....na ja. Ah, aporospos Teresa. Mein Austauschzivi mit miserabler Bezahlung aus Deutschland hat mich ja besucht. Armes Kind, kommt her und da ist gar nichts mit Stadtführung, Kneipentour und Ausflug in die nahegelegene Sierra.
Stattdessen wurden alle sichtbaren Highlights durch kulinarische Ersetzt und die Arbeit wurde mit Unterkunft und Verpflegung belohnt. Ich weiß nicht genau, wie es ihr insgesamt gefallen hat, aber der Satz, den sie am meisten verwendet hat (was ich ja auch schon oft versucht habe zu betonen, aber ich hab immer das Gefühl, ihr glaubt mir das nicht) "Die sind ja alle verrückt hier, Lena. Die sind ja alle verrückt!" Ja, stimmt. ALLE AUSSER MIR!!!
Außerdem habe ich von ihr noch erfahren, dass ich nachts im Schlaf wohl jede Menge rede. "Was hab ich denn gesagt?", frage ich. "Ich weiß nicht, ich hab nur spanisch verstanden." -- Juhu, mein Gehirn hat sich wohl endgültig umgeswitcht. Was macht man denn, wenn man in einer anderen Sprache träumt und einem das Wort nicht einfällt, dass man gerade träumen will? Das würde mich ja schon mal interessieren... 

So genug, von den persönlichen Abenteuern der Lena Held, ich werde natürlich auch noch etwas über meine kulturellen Highlights plaudern. Damit meine ich jedoch nicht, den nicht stattgefundenen Theaterbesuch oder die nicht-teilnahme am Salsakurs, sondern die kulturellen Unterschiede Deutschland - Spanien, die mich immer wieder staunen, lachen oder den Kopf schütteln lassen. Teresa hatte das Glück (oder das Pech) direkt die volle Breitseite südspanischer Kultur zu Gesicht zu bekommen. Es stand nämlich mal wieder ein Besuch der Familie ins Haus. Die Eltern der beiden Schwester kommen zu Besuch. Was ein Wirbel! Was löst das alles aus und zu welchen weiteren Überlegungen hat es mich angestoßen? Ich lasse euch daran teilhaben. 
1.) Möglicherweise stehen "die Alten" bereits am nächsten morgen vor 11 auf der Matte. Die erste lebensrettende Maßnahme? Der Freund von Aurora, mit dem sie seit über drei Jahren zusammen ist, wird nach Hause geschickt. Schließlich darf niemand erfahren, dass die beiden gelegentlich beieinander übernachten. Das ist mir jedoch schon häufiger aufgefallen, denn auch wenn die Aurora abends bei ihrem Freund ist und die Eltern ihre große Schwester anrufen, singt diese fröhlich ins Handy (denn Festnetztelefon gibts hier irgendwie nicht), die Kleine sei in der Bibliothek am Lernen. Egal zu welcher Uhrzeit - ob die Eltern das glauben? 
2.) Es werden 18 Maschinen Wäsche gewaschen, die letzten auf den 1., 2. und 3. Blick zu erkennenden Schmutzüberreste des Alltagslebens werden in Windeseile entfernt und die Sonntagskleidung wird ausgepackt. Du lieber Himmel. Dann gehts auch schon los. Die Eltern kommen. 
3.)Sie bringen so einiges mit. Essen zum Beispiel. In Tupperware. Ein ganzes Gefrierfach voll. "Damit die Kinder auch richtig essen!" Blutwurst, Wurst, Blut, Schweinefleisch und Fleisch vom Schwein, vom Rücken, vom Bein (der Pata), was weiß ich. Mittagessen ("Hast du schon Hunger?" - "Ich weiß nicht, wieviel Uhr ist es denn?" - "La hora de comer! (Zeit zu essen!) - "Ah, vale, venga! (Ah ok, alles klar. Los geht's!) 

      EXKURS ESSKULTUR: 
a)Man isst zur Essenszeit. Nicht vorher und nicht nachher. Um 15:00Uhr also und um 22.30 / 23.00. Wenn man vorher schon Hunger hat übertönt man seinen knurrenden Magen einfach damit, dass man sich über die deutsche Mitbewohnerin amüsiert, die schon um 22.00 Abend isst. Welch Affront auf den kulinarischen Lokalpatriotismus! Nur nicht zu früh mit Kochen anfangen!
b) Man isst spanisch. Das was man kennt. Oder das, was Muttern gemacht hat. Nur nichts neues Ausprobieren! "Gewürze? Mag ich nicht so gerne. Ich koche immer ohne." Also wenig Gemüse, wenig Kohlenhydrate (nur in Form von Chips oder Brot als Beilage) und dafür viel, viel Fleisch.. Hier links zum Beispiel "cocido"  = "gekochtes". Wobei der Anteil von Kichererbsen variiert. Je spanischer man sich fühlt, umso weniger Kichererbsen isst man. Ansonsten einfach nach Lust und Laune alle weitern Lebensmittel frittieren.
c) Man verurteile jegliche andere Esskultur. Die Deutschen haben eh keine (und wenn ja benutzen sie bestimmt Gewürze!), Pizza und Pasta von den Italienern mag man nicht, von den Chinesen gibts hier eh zu viele. Zugelassen: Burger King. Da gibts nämlich auch frittierte Sachen.
d) Zum Essen MUSS der Fernseher eingeschaltet werden. Auch wenn keiner Hinguckt ist die Lautstärke mindestens so hoch einzustellen, dass eine normale Konversation nicht möglich ist und die ohnehin schon laute Sprechweise des Spaniers sich um das doppelte anhebt. Wahlweise kann noch eine Person am Tisch mit dem Handy telefonieren und ab und an jemand aufstehen um Leute zu begrüßen und zu verabschieden, die an der Tür klingeln. Ah. Und die Flamencobegabte Tochter probiert nebenher noch neue Klatschrhythmen aus. 
e) Jetzt weiß ich auch, warum man danach UNBEDINGT eine Siesta machen sollte. Die Nerven brauchen das.

Doch zurück zu den Eltern. Punkt vier.
4.) Es werden Dikussionen geführt, als wären die Kinder 14. Was täglich gegessen werden sollte. Wie man sich anzieht. Auf keinen Fall dürfen die Eltern erfahren, dass man einen Flug nach Valencia zur Falla gebucht hat und schon gar nicht, dass die letzte Klausur nicht bestanden wurde. Es wird nicht über Gott gelästert, die Kirche wird gepriesen, Fernweh gegeißelt, am Essenstisch über "hacer Popo" = "AA machen" geredet und nach dem 3GängeMenü (schließlich ist Sonntag) raucht die 27Jährige Schwester heimlich eine Zigarette am offenen Küchenfenster.

Ich sag euch eins. Ab und an ist es hier wie im Irrenhaus. Aber ich mag es irgendwie. Die sind alle so verrückt, da fühle ich mich selber fast normal und genieße die Position des außenstehenden Betrachters! 

Meine Liebslingsgeschichte zum Schluss. Ich stehe mit Teresa vor einer Bar. Neben uns ein Kinderwagen, beladen mit einem dicken Baby oder sagt man da schon Kleinkind? Hat Fieber, bekommt Medizin, ist aber mit in der Bar, hautnah an der Fiesta dran. Es spricht noch nicht, aber was macht es schon? Flamencorythmen klatschen, genau. Die Onkels und Tanten lösen sich damit ab vor dem Kinderwagen das typische Patschgeräusch im sevillanischen Rhythmus zu machen "taptaptap_pause_tap", das Kind strahlt mit seinen dicken Backen, klatscht beherzt in die fleischigen Hände und zackbum hat es schon den Flamenco im Blut. Das Kind ist begeistert, die Eltern, Tanten, Onkels, Cousinen, Freunde und Verwandte der Familie und natürlich auch der Familienhund strahlen vor Glück: ein echter Sevillaner!

Ach, was sind die alle verrückt. (Oder für die TriMUN Leute: "Ob die behindert sind?" Und für alle mit der Karl-Marx-WG bekannten: "Die sind doch alle bekloppt, leck die Katz!")

So, genug für heute. Jetzt hab ich auch noch Muskelkater in den Fingern. Dienstag habe ich einen Termin beim Arzt, eigentlich um den Gips abzunehmen, aber man kennt das ja - ganz fix werden aus 15 Tagen 30. Sollte dies der Fall sein muss ich mir eine neue Strategie überlegen. Ich lebe schließlich nicht in Sevilla um den Frühling auf dem Sofa zu verbringen! Ich werde euch updaten.
Hoffentlich mit mehr spannenden Fotos.

Passt alle gut auf euch auf und nutzt eure Zeit, egal wo ihr gerade seid!
Bis bald!
La pata chula.

1 Kommentar:

  1. hey!

    jedes mal, wenn ich deinen blog less denke ich: ich müsste sowas eigentlich auch ma anfangen. und dabei bleibts dann ;)
    hoffentlich wirst du den gips motgen los... wenn icht: ich kann dir für dieses wochenende auf jeden fall schonmal anbieten dich ein stockwerk hoch zu tragen. jeff übernimmt dann das zweite, und beim letzten bist du dann dir selbst überlassen.

    viele grüsse! bisous! anna

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