Montag, 29. August 2011

Lena, Land und Leute

Ich will eine Zukunft, keine Schulden.
20 Tage ist es her, dass es ein Update von mir gab. Das sind fast drei Wochen voll von Eindrücken, die konträrer nicht sein könnten. Mein Erfahrungshorizont hat sich in diesen 480 Stunden (das sind 320 Fußballspiele, 1920 Sendungen Tagesschau und ca 8230 weichgekochte Eier) in jeglicher Hinsicht auf eindrucksvolle Art und Weise erweitert. Ich habe mir Blasen an den Füßen auf dem "Camino der Verwüstung" in einem der schönsten Nationalparks Chiles gelaufen und wäre auf dem höchsten von mir erreichten Punkt fast geplatzt vor Glücksgefühl. Ich leide unter Paranoia weil ich mich als naive
Deutsche dazu hinreißen ließ, mich in einen geplanten Raub einzumischen und die vermeintlichen Täter nun mein Gesicht kennen. Durch meine neue kalifornische Mitbewohnerin, deren Eltern Mexikaner sind, habe ich nicht nur eine neue Definition des Wortes "scharf" und "lecker" kennengelernt, sondern auch was es heißt, von den Drogenbossen nicht nur in der Zeitung zu lesen, sondern ein Gesicht der Leute vor Augen zu haben, die diese Kriminalität tagtäglich erleben. Ich verfolge in der Zeitung die Aufstände Chiles, die schon jetzt als historisch bezeichnet werden und konnte mich bei Demonstrationen mit den Studenten unterhalten, die versuchen eines der ungerechtesten Bildungssysteme der Welt zu ändern. Ich habe über Pillán, den Schutzgott der Mapuche gelernt und warum Silberschmuck den Körper schützt. Ich habe mich dazu hinreißen lassen mit Chilenen Pisco zu trinken und mich beim Erlernen des Nationaltanzes Cueca zum Affen zu machen. Und in der Nacht, da verarbeite ich das alles in meinen Träumen. Für ausführliche Infos hier weiterlesen....

9 Uhr morgens, warten auf den Bus. Guten Morgen Chile.
Wo soll ich nur anfangen? Selten ist es mir so schwer gefallen mich gedanklich zu strukturieren. Ich gebe euch und mir also einfach mal einen einfachen Einstieg. Ich möchte euch zeigen, wo ich lebe, arbeite und wenn es die Zeit erlaubt, unterwegs bin. Meine Damen und Herren: Temuco. 700km südlich von Santiago de Chile. Hässliche Provinzhauptstadt der Araucanía mit dem höchsten Anteil an Ureinwohnern (Mapuche) und - surprise - ärmste Region des Landes. Scheinkorrelation? Wohl eher nicht. Ab 5 Uhr abends, wenn es kalt wird liegt über der ganzen Stadt der Geruch von Feuerrauch, die Primärheizquelle ist (nasses) Holz. Erinnert an eine Mischung aus sommerlichem Grillduft und schwelenden Überresten eines einstigen Lagerfeuers. Es gehört zur traurigen Tagesordnung, dass die Medien hier mit gewisser Regelmäßigkeit vom Tod von Mitbürgern durch Erfrieren berichten, Mapuche vor dem Rathaus für ihre Rechte demonstrieren und die Blechhütten in Flussnähe eher an Slums in Afrika erinnern, als an ein Land dem die GIZ den Status eines Schwellenlandes zusprechen möchte.
Der Vorteil an einer 350.000 Einwohner zählenden Kleinstadt ist, dass man schnell mal raus kann. Einfach in den Bus steigen oder eine halbe Stunde laufen und schon verändert sich die Sicht auf die Dinge. Letztes Wochenende z.B. habe ich die Sonne genutzt um auf den stadteigenen Naturparkshügel raufzuklettern und Temuco mal von oben zu betrachten. Mit zwei Stunden Schlaf nach berühmter chilenischer Feierei und Smog in den Lungen hat mich das ganz schön zum Schwitzen gebracht, aber gelohnt hat es trotzdem.... Eindrücke:
Was sich hier links im Bild nur als kleine Punkte am linken Bildrand erahnen lässt, sind in Wirklichkeit leider Tonnen von Müll, die sich nich nur auf Straßen, in Wäldern und Hinterhöfen befinden, sondern auch leider achtlos in den Fluss geschmissen werden. Aber mal ehrlich: ich kanns kaum verübeln. Hab auf dem Weg eine Banane gegessen (spätestens seit Herr Lehmann weiß ich ja, dass es nach Feierei auf auf die Elektrolyte zu achten gilt!) und dann verzweifelt locker mal solange nach einem Mülleimer gesucht bis die Schale schon braun war in meiner durchfrohrenen Hand. Was also tun? Ab damit ins Gebüsch. Beruhigte mein Gewissen danach mit: ist ja Biomüll, ist ja Biomüll, ist ja Biomüll!
Einmal den Fluss überquert kommt man in den ursprünglicheren Teil Temucos, wo es mehr Pferdekutschen als Autos gibt. Hier transporiert man wahlweise Familie oder Kartoffel mit einer Pferdestärke (PS). Was mit Sonnenschein eine gewisse friedliche Romantik auf mich als Europäerin ausströmt, sieht mit Regen und Kälte sicherlich schon anders aus. Viele der Waren, die man auf dem Markt kaufen kann, von dem ich in meinem letzten Blog erzählt habe, werden auf diesem Wege die 4+x km von ihrem Ursprungsort zum Konsumenten gebracht. Und bei uns brausen die LKW von ALDI von Spanien mit ihren Orangen bis vor die Haustür. Verrückt.

Temuco Overview
Temuco ist wie im Moment ganz Chile Schauplatz von Protesten und Demonstrationen. Seit mehreren Monaten gehen landesweit Studenten auf die Straße um für bessere Bildungsbedingungen zu demonstrieren. Chiles Bildungsystem ist eines der teuersten Bildungssysteme der Welt, weitgehend privatisiert und basiert zudem auf der Konstitution, die unter Pinochet (dem langjährigen Diktator) verabschiedet wurde. Laut OECD und UNESCO ist Chile eines der Länder in dem die sozioökonomische Trennung in Bildungseinrichtungen am stärksten ausgeprägt ist. Und anstatt Buchstabensalat bring ich mal ein praktisches Beispiel mit Zahlen: Ein gut situierter Busfahrer verdient im Monat wenn er Glück hat so rund seine 850 Euro. Je nach Privatschule fangen die monatlichen Gebühren pro Kind bei 60Euro an - da ist es aber dann fraglich ob der Klassenraum eine Tafel besitzt... Einen Zugang zu den privaten Schulen kann damit kaum gewährt werden. Es bleiben die wenigen öffentlichen Bildungsinsitutionen, deren schlechter Ruf ihnen wie eine dunkle Gewitterwolke vorauseilt. Gehn wir aber mal als Vollzeitoptimist davon aus, dass das Kind zuminest eine fundierte Grundausbildung in der Basisschule bekommen hat und sich frohen Mutes entscheidet eine universitäre Ausbildung anzustreben: hier gehen die Probleme erst richtig los! Mehr als 2/3 der Bevölkerung können sich eine universitäre Ausbildung schlicht nicht leisten, erschreckend hohe Prozentzahlen repräsentieren den Anteil der Studienabbrecher aus finanziellen Gründen. Kurzum: zugang zum Bildungsystem ist klassenabhängig. Die reiche Klasse bleibt unter sich und der Rest muss sich dann eben mit einem Aushilfsjob zufriedengeben. Wenigstens gibts aber einen satten Mindestlohnt von 180 Euro...
Grund genug mit Hunderttausenden im ganzen Land auf die Straße zu gehen. Hier einten sich Studenten und Lehrer, Professoren und Schüler. Der Studentenprotest entwickelte sich nach und nach zum landesweiten Ausdruck der Unzufriedenheit der Menschen mit ihrer rechtkonservativen Regierung
"Für ein gerechtes Chile - für alle"
und dem neoliberalen Wirtschaftssystem. Studenten, Ärzte, der Besitzer vom Minisupermarkt nebenan, Mapuche, jung und alt - die Demonstranten könnten in ihrer Zusammenstellung nicht unterschiedlicher sein. Was sie wollen ist eine Verbesserung ihrere Lebensbedingungen und ein neue Konstitution - über 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur folgt man nämlich immernoch den alten Kamellen Pinochets. Erschreckend? Erschreckend! Ich marschiere mit und hoffe die Jungs und Mädels verlieren ihre Ausdauer im Kampf gegen die taube Regierung nicht. Und ich hoffe, dass nicht noch jemand wie der 16jährige Junge letzte Woche von der Polizei aus versehen erschossen wird. Und nicht noch mehrere hunderte friedlich protestierende Menschen festgenommen werden, bloß weil sie ihre Meinung mitteilen. Wen das Thema tiefergehend interessiert, der schaut mal im Internet. Ich habe nur noch ein paar Detailbilder...

Chile - einziges Land in Lateinamerika ohne kostenlose Bildung

Die Flagge der Mapuche, während der Baum im Hintergrund fröhlich gute Miene zum bösen Spiel macht.


"Danke Kuba, dass mein Sohn gratis Bildung bekommen konnte."

"Ingeneure bei der Arbeit"
Kommen wir mal zu schöneren Dingen. Und wenn ich sage schön, dann meine ich auch schön. Vor zwei Wochen nutzte ich nämlich die verlockende Möglichkeit eines verlängerten Wochenendes um mich kurzfristig abzuseilen. Also ab in den Bus und los gings richtung Süden. Die Region der Seen, die Region der Flüsse, Valdívia, Puerto Varas, das Einganstor zu Patagonien - da wenn das mal nicht verlockend klingt. Was soll ich euch groß über geschichtliche oder geografische Einflüsse erzählen. Schaut her:

Dorfidyll auf dem Weg nach Süden mit dem berühmten Pappeplakat, dass das Tagesgericht anpreist. Heute keine Empanadas!

Dorfidyll Teil 2
Dorfidyll Teil 3. Hier sagt sich nicht Fuchs und Hase gute Nacht, sondern Hahn und Schwein.

Puerto Saavedra. Lebt hauptsächlich vom Tourismus das Städtchen. In den Wintermonaten leider wie ausgestorben - man lebt man hauptsächlich vom Fischfang. Es gibt also... Empanadas mit Meeresfrüchten!

Fischmarkt Valdivia, hier kann man mal von fangfrisch sprechen. Jeder hat was davon. Der Produzent, der Konsument, die Vögel und die hier im Bild links leider nicht zu sehenden Seelöwen, die zu einem guten Dutzend hinter den Arbeitern im Meer rumdümpeln und darauf warten, dass Ihnen der Abfall in den Hals geschmissen wird. Der zufriedene Gesichtsausdruck rechts zeigt aber alles find ich. Nächstes Leben: Seelöwe.




Lllifen... Sonntags gibts leider keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr nach 2 Uhr nachmittags. "Waaaaaas?", sage ich, "Und wie komme ich wieder hier weg?" - "Die Leute nehmen dich schon mit, wenn du dich an die Straße stellst", sagte man mir. So wars auch. Und ne Empanada gabs auch noch dazu. Danke Chile.

Llifen, Lena und Selbstauslösermodus. Hier gibts auch noch kleine Häuschen zu verkaufen...

Petrohué am Ziel meiner Wanderung auf dem "Weg der Verwüstung". Hinter mir der mächtige Vulkan, vor mir der tiefste See Lateinamerikas, in mir drin: glückglückglück. Und Ruhe. Den ganzen Tag ist mir da kein Mensch begegnet und das einzige, was man hören konnte war... mein Atem und das Knacken von gefrohrenem Boden unter meinen Füßen. Lenaidyll.

Petrohué Teil 2

Vulkan. Mächtig, wunderschön, erhaben und immernoch regelmäßig aschespuckend hat er in seinem Umfeld eine bizarre Welt aus Aschepfaden und fruchtbarem Boden hinterlassen auf dem alles mögliche einzigartige wächst. Hätte ich doch noch mein "was blüht denn da?" dabeigehabt!

Da bekomme sogar ich Lust Fußball zu spielen. Ein gelungener Shot, wie ich finde.


Schätze der Natur, die wie aus dem Nichts auftauschen.


Wie schwer es ist aus den vielen tollen Motiven die interessantesten für euch auszuwählen. Ich hoffe es kommt wenigstens ein bisschen etwas von der Atmosphäre rüber, die ich hier tagtäglich in mich aufsauge. 3 1/2 Stunden hab ich jetzt an diesem Blogeintrag gesessen und noch nicht 50% von dem geschrieben, was ich euch erzählen wollte. Warum rennt die Zeit nur so davon? Ich muss jetzt jedenfalls schlafen. Diese Woche wird anstrenged (ich arbeite schließlich von 9-17.30!!) und nächstes Wochenende gehts ab nach Argentienien, Mendoza. Zum Visaverlängern. Um zu sehen, ob der Minderwertigkeitskomplex der Chilenen berechtigt ist. Um die Anden zu überqueren. Um zu Grillen. Um Argentinier zu gucken (sollen ja die schönsten Männer auf der Welt sein!) Kurzum: um die Zeit zu nutzen. Dazu bin ich ja schließlich hier. Und dafür bin ich sooo dankbar!


Lena

4 Kommentare:

  1. Wenn das Frau Willwacher wüßte? Das du an dein "Was blüht denn da" auch noch bei solch überwältigenden Eindrücken denkst!

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