An jenem bedeutenden Tag befand ich mich bei sogar fast zwei
Drittel mentaler Stabilität und sah neugierig dabei zu, als der alte Mann sich am
Hamburger Hauptbahnhof gerade noch so durch die U-Bahn Tür mit ins Abteil herein
quetschte - Krückstock vor, frei nach dem Motto: „Das Wichtigste ist schon mal drin.“ Den am Knüppel
hängenden Körper behände nachgezogen, dabei feste die kleine viereckige
Tupperdose in der freien Hand. Gleichgewicht gewinnen, Sitzplatzsuche
anstrengen. Glücklicherweise fiel seine Wahl auf die Bank, die mir und meiner Zweidrittelstabilität
genau gegenüber lag. Meiner Oppositionsbank sozusagen.
Plumps, da sitzt er und ich weiß, wir werden die nächsten Minuten unseres Lebens
miteinander teilen, bis wir beide in verschiedene Richtungen weiterziehen und
ich allenfalls noch weitere 15 Minuten als schemenhafte Erinnerung in seinem Kurzzeitgedächtnis
verweile. Er dabei unwissend, dass dem vice versa eben nicht so ist. Deswegen
hat er auch keinen Grund beunruhigt zu sein, sondern kann sich in aller Ruhe
der blauen Tupperdose widmen. Genug Zeit, sich seine Hände genauer anzuschauen.
Kräftig, krumm, gepflegt. Verheiratet. Alt.
Der Mann hat mit den Händen sicher schon Häuser gebaut. Oder im Kuhmist gewühlt,
Luftküsse verteilt, Bücher geschrieben oder vielleicht damit geschossen. Man
weiß das ja nicht, man weiß nur, dass sie auf jeden Fall viel zu erzählen
haben.
Ah, Wurstbrot ist drin, in der Dose. Staubtrocken noch dazu,
vielleicht noch von vor dem Krieg. Mein Magen knurrt. Gut, der Alte fängt an zu
essen und in meinem Kopf fährt mit der U-Bahn zusammen der Film los über das
Leben dieses betagten Herren. Trotz der Last des Alters, denke ich, aufrecht
gegangen ist er ja schon. Könnte daran liegen, dass er Hanseat ist. Möglicherweise.
Oder eben vielleicht doch an den Gesundheitsschuhen. Der Schal ist jedenfalls sehr
ordentlich umgebunden und von derselben Graustufe wie sein Nasenhaar (auch so
eine Kuriosität des Alters). Die Mütze ist zu groß, schief platziert und es
steht „hunting“ drauf. Und nochmal „hunting“. Und „hunting“. Es überfällt mich eine plötzliche Zuneigung,
während der Alte unbehelligt an seinem Staubbrot rumknistert.
Da sitzt er nun wie ein antiker Fremdkörper in dieser
U-Bahn, ein Überbleibsel vergangener Zeiten, während die Leute teilnahmslos
hektisch ein und Aussteigen, die Elektrostimme Ansage von Alstertouristik,
Nah-und Fernzügen und St. Pauli macht und das Wurstbrot sich Stück für Stück
mit seinem Wirt verbindet. Während ich ihn in meinem Kopfkino zuhause auf der
ockerfarbenen Couch mit Oliv-braunen Schlappen bis ans Ende seines Lebens friedlich
staubige Wurstbrote essen sehe, auf den Knien ein Kreuzworträtsel der FAZ und
im Hintergrund einen alten Plattenspieler, wühlt der Mann in seiner Tasche und
zerrt eine kleinen Ledermappe heraus. Wie schön, denke ich, er macht sich
sicher seit Jahren Notizen in dieses Büchlein. Über Wurstbrote und das Leben.
Und dann geschieht das Unglaubliche.
Mit einem magnetisch-magischen Klapp springt die Ledermappe auf und zum Vorschein kommt – Kindle –
ein glänzendes E-Book der neusten Generation! Das sieht so neu aus, als könne
es sogar im Rückwärtsgang fliegen und dabei simultanübersetzt vorlesen. Mein
Mund öffnet sich, fassungslos. Und dann mischen sich wohlwollendes Amüsement
wegen der Absurdität des Bildes mit immenser
Angst, dass er als Nächstes ein I-Phone fünf auspackt und anfängt bei
Facebook „Wurstbrot“ in „U-Bahn Hamburg“ zu posten. Glücklicherweise trennen
sich hier unsere Wege früh genug (aussteigen bitte), bevor sich das Drama in
der Katastrophe auflöst.
Vielleicht bin ich strukturkonservativ (,Raffi!) Aber irgendwann
ist‘s auch einfachmal genug.
Numero uno, der Erwähnte "(,Raffi!) bittet um ein ph statt ff, nur der Form wegen und findet trotz des Faux-pas die Alltagsstory aus dem hamburger Untergrund ganz herzerwärmend. Allerdings wäre der Vorwurf einer strukturkonservativen Einstellung nur dann ok, wenn du dem guten Mann den Kindle wütend aus der Hand gerissen hättest. :)
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