Donnerstag, 7. Februar 2013

Der Alte und die U-Bahn

U-Bahn ruckelt, zuckelt, nächster Halt: Hauptbahnhof, aussteigen bitte, einsteigen bitte, Türen schließen, Achtung bitte, Abgang U-Bahn. Same procedure as siempre. Ich fahre ja sehr gerne U-Bahn, S-Bahn, Bus-Bahn und alles, wo sich viele Leute auf einem Haufen drängen. Zumindest wenn ich mich in einem mental mindestens semistabilen Zustand befinde, also schätzungsweise die Hälfte meiner Lebenszeit.

An jenem bedeutenden Tag befand ich mich bei sogar fast zwei Drittel mentaler Stabilität und sah neugierig dabei zu, als der alte Mann sich am Hamburger Hauptbahnhof gerade noch so durch die U-Bahn Tür mit ins Abteil herein quetschte - Krückstock vor, frei nach dem Motto:  „Das Wichtigste ist schon mal drin.“ Den am Knüppel hängenden Körper behände nachgezogen, dabei feste die kleine viereckige Tupperdose in der freien Hand. Gleichgewicht gewinnen, Sitzplatzsuche anstrengen. Glücklicherweise fiel seine Wahl auf die Bank, die mir und meiner Zweidrittelstabilität genau gegenüber lag. Meiner Oppositionsbank sozusagen. 

Plumps, da sitzt er und ich weiß,  wir werden die nächsten Minuten unseres Lebens miteinander teilen, bis wir beide in verschiedene Richtungen weiterziehen und ich allenfalls noch weitere 15 Minuten als schemenhafte Erinnerung in seinem Kurzzeitgedächtnis verweile. Er dabei unwissend, dass dem vice versa eben nicht so ist. Deswegen hat er auch keinen Grund beunruhigt zu sein, sondern kann sich in aller Ruhe der blauen Tupperdose widmen. Genug Zeit, sich seine Hände genauer anzuschauen.  Kräftig, krumm, gepflegt. Verheiratet. Alt. Der Mann hat mit den Händen sicher schon Häuser gebaut. Oder im Kuhmist gewühlt, Luftküsse verteilt, Bücher geschrieben oder vielleicht damit geschossen. Man weiß das ja nicht, man weiß nur, dass sie auf jeden Fall viel zu erzählen haben. 

Ah, Wurstbrot ist drin, in der Dose. Staubtrocken noch dazu, vielleicht noch von vor dem Krieg. Mein Magen knurrt. Gut, der Alte fängt an zu essen und in meinem Kopf fährt mit der U-Bahn zusammen der Film los über das Leben dieses betagten Herren. Trotz der Last des Alters, denke ich, aufrecht gegangen ist er ja schon. Könnte daran liegen, dass er Hanseat ist. Möglicherweise. Oder eben vielleicht doch an den Gesundheitsschuhen. Der Schal ist jedenfalls sehr ordentlich umgebunden und von derselben Graustufe wie sein Nasenhaar (auch so eine Kuriosität des Alters). Die Mütze ist zu groß, schief platziert und es steht „hunting“ drauf. Und nochmal „hunting“. Und „hunting“.  Es überfällt mich eine plötzliche Zuneigung, während der Alte unbehelligt an seinem Staubbrot rumknistert. 

Da sitzt er nun wie ein antiker Fremdkörper in dieser U-Bahn, ein Überbleibsel vergangener Zeiten, während die Leute teilnahmslos hektisch ein und Aussteigen, die Elektrostimme Ansage von Alstertouristik, Nah-und Fernzügen und St. Pauli macht und das Wurstbrot sich Stück für Stück mit seinem Wirt verbindet. Während ich ihn in meinem Kopfkino zuhause auf der ockerfarbenen Couch mit Oliv-braunen Schlappen bis ans Ende seines Lebens friedlich staubige Wurstbrote essen sehe, auf den Knien ein Kreuzworträtsel der FAZ und im Hintergrund einen alten Plattenspieler, wühlt der Mann in seiner Tasche und zerrt eine kleinen Ledermappe heraus. Wie schön, denke ich, er macht sich sicher seit Jahren Notizen in dieses Büchlein. Über Wurstbrote und das Leben. Und dann geschieht das Unglaubliche. 

Mit einem magnetisch-magischen Klapp springt die Ledermappe auf und zum Vorschein kommt – Kindle – ein glänzendes E-Book der neusten Generation! Das sieht so neu aus, als könne es sogar im Rückwärtsgang fliegen und dabei simultanübersetzt vorlesen. Mein Mund öffnet sich, fassungslos. Und dann mischen sich wohlwollendes Amüsement wegen der Absurdität des Bildes mit immenser  Angst, dass er als Nächstes ein I-Phone fünf auspackt und anfängt bei Facebook „Wurstbrot“ in „U-Bahn Hamburg“ zu posten. Glücklicherweise trennen sich hier unsere Wege früh genug (aussteigen bitte), bevor sich das Drama in der Katastrophe auflöst.  

Vielleicht bin ich strukturkonservativ (,Raffi!) Aber irgendwann ist‘s auch einfachmal genug.

1 Kommentar:

  1. Numero uno, der Erwähnte "(,Raffi!) bittet um ein ph statt ff, nur der Form wegen und findet trotz des Faux-pas die Alltagsstory aus dem hamburger Untergrund ganz herzerwärmend. Allerdings wäre der Vorwurf einer strukturkonservativen Einstellung nur dann ok, wenn du dem guten Mann den Kindle wütend aus der Hand gerissen hättest. :)

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